João Silvério Trevisan - Ana in Venedig

Eichborn Verlag 
744 Seiten, geb.
24,90 € 
ISBN 3-821-80347-9

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Im Jahre 1890 verbringt die Familie Mann ihren Urlaub in Venedig. Hier kommt es zu einer (fiktiven) Begegnung zwischen Julia Mann, der brasilianisch-deutschen Mutter von Heinrich und Thomas, ihrer schwarzen Amme Ana und dem jungen brasilianischen Komponisten Alberto Nepumuceno. Um dieses Treffen herum arrangiert Trevisan die Geschichten seiner drei Hauptpersonen, denen eins gemeinsam ist: Die Erfahrung der Sehnsucht nach der Heimat, in ihrer Sprache 'saudade' genannt.

Der Roman ist äußerst geschickt gegliedert, nach einem brillant geschriebenen Prolog, der ein Interview Nepumucenos in Brasilien im Jahre 1919 beschreibt; bereits hier äußert sich Nepumuceno zu Fragen der nationalen Identität Brasilien und zur brasilianischen Kunst und Kultur, beides verschmilzt zu einem Leitmotiv, das, genau wie das Leitmotiv der 'saudade', den gesamten Roman durchzieht.

Nach diesem Prolog wird die Lebensgeschichte Nepumucenos zunächst beiseite gelassen, das Schicksal Julia Manns und Ana steht zunächst im Mittelpunkt. Als kleines Mädchen ist Julia gezwungen, mit ihrer Familie nach dem Tod ihrer Mutter, ihre brasilianische Heimat zu verlassen und nach Deutschland zu ziehen. Obwohl ihr Vater selber Deutscher ist, ist Deutschland für sie ein fremdes Land. Zunächst stößt sie alles ab, ist ihr alles fremd - und immer wieder 'saudade'. Der Teil, indem aus der Sicht des kleinen Mädchens von den Ängsten gesprochen wird, die das fremde Land zunächst auf sie ausübt, wie sie nach und nach ihre ersten deutschen Worte lernt, Freunde findet und dem Zauber des ersten erlebten Schneefalls und der ersten deutschen Weihnacht erliegt, ist der stärkste und anrührendste Teil des ganzen Buches. Trevisan spielt hier sein ganzes Können aus; einfühlsam und doch naiv lässt er uns Julias Gedanken lauschen, wir leiden mit ihr und müssen uns selber erst an das fremde Land gewöhnen.

Ana hat es schwerer, sich an das fremde Land zu gewöhnen. Als Farbige fällt sie überall in Deutschland auf, sie leidet am meisten unter der 'saudade'. Eine Affäre zu einem jungen deutschen Künstler, einem armen Bohemien, der sich schließlich zu Tode trinkt, wirft sie endgültig aus der Bahn.

Nun wendet sich das Buch wieder Alberto Nepumuceno zu, der als junger Mann Brasilien verlässt, um in Europa an verschiedenen Konservatorien zu studieren. Auch ihn packt beim Verlassen seiner Heimat eine unbeschreibliche Wehmut, die er in seinen Tagebuchaufzeichnungen niederlegt. Diese Tagebuchnotizen ziehen sich leider auf eine beinahe unerträgliche Länge hin. Dem Leser scheint die Reise Nepumucenos auf dem Schiff kein Ende zu nehmen, bis ins kleinste Detail muss man von seinen Ängsten und Gedanken lesen. Jeder Tag wird genauestens auseinander genommen. Mal unterhält er sich mit einer Brasilianerin aus der dritten Klasse, dann verliebt er sich plötzlich in die junge Engländerin Miss Nightingale - für den jungen Komponisten ohne Zweifel sehr wichtige Ereignisse, für den Leser jedoch unerträglich langweilig.

Doch irgendwann ist auch dieser Teil überwunden, und Nepumuceno findet sich schließlich in Italien wieder. Hier trifft er nun endlich die inzwischen alt und an Schwindsucht erkrankte Ana, die gemeinsam mit Familie Mann in Venedig den Urlaub verbringt. Nur durch Zufall begegnen sich die beiden am Strand von Venedig, doch sofort fühlen sie sich durch ihre gemeinsame Herkunft und ihre 'saudade' verbunden.

Nepumuceno wird von Ana auch bei der Familie Mann eingeführt und begegnet auch dem fünfzehnjährigen Sohn Thomas, der bereits künstlerisches Talent zeigt, aber wortkarg und zurückhaltend ist. Julia dagegen ist sehr beglückt, einen Brasilianer zu treffen und der Leser wird, wieder einmal, in den schier endlosen Strudel von Diskussionen über brasilianische Identität und Tradition gerissen, die langfristig ebenfalls nicht zu begeistern wissen.

Viel wichtiger ist einem da die tiefe Freundschaft zwischen Ana, die durch ihr Schicksal inzwischen gebrochen und todkrank, aber immer noch lebenslustig ist, und dem melancholischen Nepumuceno, der so viel Freude und Nutzen aus dieser ungewöhnlichen Freundschaft ziehen kann. Bewegend liest man die Geschichte Anas, die erzählt, wie sie versuchte, sich alleine durchzuschlagen, nachdem Gustav zu Tode gekommen war. Immer wieder werden der Leser und Nepumuceno an ihre Krankheit erinnert. Mal bekommt sie einen heftigen Hustenanfall, mal muss sie ihr kleines Spucknäpfchen benutzen.

Das Buch endet mit einem unerwarteten Zeitsprung ins Zwanzigste Jahrhundert. Doch nichts scheint sich verändert zu haben. Noch immer existiert der junge Nepumuceno, der über die schwierige Lage seiner Heimat nachdenkt, ein Land, auf der Suche nach einer eigenen Identität, mit dem Ziel, den Sprung in die Moderne zu schaffen, ohne die eigenen Traditionen zu negieren.

Ana in Venedig ist ein monumentales Buch. Die nationalen Fragen Brasiliens mögen dem Leser bis zum Schluss fremd erscheinen, die Länge der Diskussion dieser Angelegenheit mag stören, doch wird gerade dadurch die ungeheure Wichtigkeit dieses Bereichs für den Autoren und die handelnden Personen deutlich. Leider wird der Roman dadurch teilweise langweilig und anstrengend zu lesen, was schade ist.

Trevisan ist ein ungemein geschickter Erzähler, der in der Lage ist, je nach Erzählposition den Erzählstil geschickt zu variieren. So überwiegt im Gesamteindruck die positiven Anteile des Buches, die den Leser in seinen Bann ziehen und bis zum Ende fesseln.

© Till Weingärtner


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