Roberto Bolaño: Lumpenroman - Rezension Literaturmagazin Lettern.de Roberto Bolaño: Lumpenroman

Hanser Verlag
Hardcover
, 114 Seiten
14
,90 €
ISBN: 3-446-23546-9
 

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Wahrnehmung und Krimi

Der "Lumpenroman" von dem 2003 verstorbenen chilenischen Autor Roberto Bolano (2666) erzählt vordergründig einen kleinen Krimi, behandelt aber vielmehr die Wahrnehmung an sich.

Die junge Italienerin Bianca und ihr Bruder sind kürzlich Waisen geworden. Ohne jeden Halt vernachlässigen sie die Schule und bemühen sich, die kleine Waisenrente finanziell aufzubessern. Nachdem sie feststellen, dass sich ehrliche Arbeit nicht sonderlich lohnt, wird Bianca von ihrem Bruder und zwei seiner Freunde dazu gedrängt einen kriminellen Plan auszuführen. Bereitwillig lässt sie sich darauf ein, einem ehemaligen Bodybuilder und Filmstar zu Diensten zu sein. Maciste, durch seine ehemaligen Filmrollen so genannt, ist erblindet und soll einen vollen Tresor in seinem Haus haben. Bianca macht sich nach ihren Liebesdiensten auf der Suche danach.

Nur vordergründig wird eine Krimihandlung erzählt. Bolano verzichtet auf sämtliche dramaturgischen Elemente, die das Genre ausmachen. Vielmehr geht es darum, wie jemand generell in die Kriminalität abrutscht. Aber vor allem geht es um die Wahrnehmung an sich, die in diesem Aspekt auch eine große Rolle spielt. Kriminell zu werden ist als ein seelischer Verfall zu sehen, der auch die Wahrnehmung beeinflusst, die wiederum die Seele und den Geist beeinflusst, der wiederum die Wahrnehmung prägt. Ein Kreislauf also. Der Verlust der Eltern lässt die Kinder jeden Halt und jedes Vorbild verlieren. Indem Bolano seine Protagonisten durch das Fernsehen, Film und Pornografie erziehen lässt, nimmt er zwar eine Postmoderne Schiene, verlässt aber in der zweiten Hälfte des Buches die Richtung. Aber das Lernen durch Medien wird sehr glaubhaft geschildert. Liebe und Erotik lernen die Figuren anhand von Pornofilmen (oder meinen es zumindest), Wissen anhand von Quizshows und alle Bezüge zu der Realität scheinen ihnen nur durch Filme real. Der Konsum ist also viel mehr als eine reine Flucht. Der teilweise anonyme Sex, den die Heldin mit den Freunden ihres Bruders hat, zeugt von der Unkenntnis von Liebe und Erotik, aber auch von dem Drang irgendetwas zu spüren. Mit wem Bianca gerade schläft ist ihr ziemlich egal. Dieses Abstumpfen und die finanziellen Sorgen machen das Abgleiten in die Kriminalität glaubhaft. Erst durch den Kontakt mit dem blinden Maciste erwacht Bianca aus ihrer seelischen Lethargie. Aber erst als er sie braucht. Die Veränderung der Wahrnehmung wird direkt zu Anfang des Buches durch eine starke symbolische Szene deutlich. Nach dem tödlichen Unfall der Eltern ist das Auto nicht mehr gelb (für die Sonne, also für das Leben), sondern grau. Zumindest sehen es die hinterbliebenen Kinder so. Nicht nur hat das Leben durch den Verlust an Glanz verloren, sondern auch jegliche Richtschnur. Denn grau ist ein Mittelding zwischen Dunkelheit und Licht. Das Innenleben wird vornehmlich durch die Wahrnehmung bestimmt und die Grenzen zwischen Tag und Nacht verschwimmen. Natürlich ist es kein Zufall, dass der ehemalige Filmstar Maciste blind ist und Bianca im Dunkeln sehen kann. Und ebenso wie die Seele abhärtet, verfällt das Haus von Maciste. Der äußere Schein verschwindet und die Innenschichten werden sichtbar. Dennoch nähern sich die Figuren im Roman selten an. Jeder ist in sich gefangen. Auch der Bruder geht mit seinem Kummer nicht zu seiner Schwester, sondern schließt sich zum Weinen im Bad ein. Die Leere ist vollkommen. Dennoch schafft es Bolano, den Roman nicht allzu düster werden zu lassen, sondern immer auch Hoffnung strahlen zu lassen. Was Bianca an Maciste anzieht, ist wohl seine, durch die Blindheit geschaffene, Autarkheit von der visuellen Umwelt. Bianca, die eine gestörte Wahrnehmung hat, findet das erotisch. Erst als sie merkt, dass es keine wirkliche Selbstständigkeit ist, fängt sie an, nachdenklich zu werden. Der Name Bianca ist bei einem solchen Thema der Wahrnehmung natürlich stark symbolisch. Schließlich bedeutet der Name "die Reine, Glänzende, Weiße, saubere, Strahlende".

Ein kleiner, vielschichtiger und intelligenter Roman, der fasziniert, beeindruckt und den Leser mit anderen Augen sehen lässt. Große Literatur.

© Jons Marek Schiemann 2011


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